Umgangsgestaltung in der Zeit der Corona-Ausnahmesituation

Viele Dinge des Alltags sind im Moment gerade anders. In allen Bereichen unserer Gesellschaft stellen sich Fragen, die so noch nie gestellt wurden. Gesucht werden zunächst pragmatische Lösungen für bis vor kurzem noch alltägliche Abläufe.
Gerade Familien sind gefordert, tägliche Selbstverständlichkeiten völlig neu zu gestalten, soziale Kontakte, Arbeit, Schule, Betreuung, nichts funktioniert mehr wie gewohnt.
In der Regel sind Eltern mit neuen Rollen konfrontiert, stellen sich etwas der Herausforderung von Homeoffice und Erziehung, machen intensive Erfahrungen als „Hauslehrer“ und „Indoor-Freizeitpartner“ ihrer Kinder. Familien entwickeln dabei neue zeitliche Abläufe in der Tagesgestaltung angesichts der Einschränkungen im Kontakt nach außen.

Was bedeutet dies nun für die Kinder, deren Familien nicht unmittelbar zusammenleben, deren Eltern getrennt oder geschieden sind und die sich, oft in vielfältiger Weise, zwei Familie zugehörig fühlen?
In der Regel haben diese Kinder bereits schwierige kritische Lebenssituationen erlebt und – im besten Fall – erfolgreich und gestärkt überwunden. Mit der Trennung der Eltern machen Kinder durchaus ähnliche Erfahrungen wie die, die unsere gesamte Gesellschaft aktuell machen muss: Selbstverständlichkeiten erscheinen nicht mehr sicher, neue und ungewohnte Abläufe prägen den Alltag. Je nach Alter der von einer Trennung betroffenen Kinder suchen diese nach einer Einordnung des Geschehenen, zeigen unterschiedliche Gefühle, hinter denen in der Regel ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit steht. Erst wenn sich das Familiensystem neu organisiert hat und Kinder neben eigenen Möglichkeiten der Bewältigung auch wieder Sicherheit in Abläufen und Strukturen erlebt, gelingt es ihnen, die Situation zu akzeptieren und sichere Perspektiven zu entwickeln.
Getrennten Eltern ist es oft nur mit viel Mühe und Energie gelungen, für die Kinder angemessene Lösungen zu finden, die ihnen selbst die Distanz zum ehemaligen Partner gewährt, die sie für ihre eigene Lebensgestaltung brauchen und die gleichzeitig ihrem Kind eine passende Kontaktgestaltung zu beiden Elternteilen ermöglicht. Vertraute Muster von Auseinandersetzung prägen dabei in der Regel den Umgang der Eltern untereinander nach wie vor, gute Kooperation stellt oft eine Herausforderung dar.
Die aktuelle Corona-Krisensituation prägt in einer besonderen Weise genau die Familien, die eine Trennung durchlebt haben und nun eine Regelung der Kontaktgestaltung für die Kinder „zwischen den zwei Lebenswelten“ suchen.

Vermeidung von Kontakten heißt das Gebot der Stunde! Selbst Kontakt mit Abstand nur dort, wo er absolut nicht vermeidbar ist, nur die eigenen vier Wänden erscheinen noch sicher. Nur wer zur Familie gehört und zusammenlebt, steht dafür in umso intensiverem direktem Kontakt. Was nun, wenn Kinder, wie beschrieben, zwei Familien haben, in zwei Lebenswelten leben?
Grundsätzlich führen die aktuellen Kontakteinschränkungen nicht zur Notwendigkeit einer Aussetzung der bisherigen Regelungen zur Umgangsgestaltung. Gerade jetzt kann es umso bedeutsamer sein, Kindern zu zeigen, wie es den Eltern gelingt, aus einer formalen Umgangsabsprache eine gute Betreuungsabsprache zu entwickeln. Diese sollte natürlich an der Gesundheit der Kinder orientiert sein und den allgemeinen Kontaktauflagen entsprechen, gleichzeitig aber auch die Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern aufgreifen.
Die aktuelle Situation bietet dabei neue Chancen für alle Beteiligten. Eltern sehen sich plötzlich damit konfrontiert, von alten Mustern der Auseinandersetzung Abschied zu nehmen. Die Herausforderung besteht darin, im elterlichen Kontakt gemeinsam auszuloten, wie Eltern den Kindern gerade jetzt eine Betreuung ermöglichen können, die ihnen Sicherheit vermittelt, auch oder gerade mit dem getrenntlebenden Elternteil. Damit eröffnet sich auch für Kinder eine möglicherweise neue Lernerfahrung. Plötzlich gelingt es den Eltern, eigene Spielräume zu eröffnen und einzubringen, Initiativen werden ergriffen, aus denen sich neue Lösungen ergeben. Selbst wenn der Kontakt nicht im Sinne einer geteilten Betreuung gestaltet werden kann, in einer Quarantänesituation etwa oder wenn ein Elternteil zu weit entfernt lebt, eröffnen sich neue, eventuell bisher nicht genutzte Möglichkeiten zur Kontaktgestaltung, die vorher undenkbar waren. Kindern aktiv die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem anderen Elternteil etwa per Telefon oder Skype zu eröffnen, wirkt möglicherweise auf Kinder zunächst irritierend. Haben sie doch bisher die beste Erfahrung damit gemacht, „ihre Welten“ klar zu trennen. Aber auch hier ergibt sich ein völlig neues Lernumfeld für alle Beteiligten. Neues auszuprobieren bedeutet auch, die Zuversicht mitzubringen, dadurch nicht nur aktuell, sondern auch für die Zeit danach eine Sicherheit zu finden, die Auswirkungen auf jeden Einzelnen zeigt, Bedürfnisse aufgreift und ein neues Miteinander, auch getrennt, ermöglicht.

Ludwigshafen, April 2020

Knut Bayer
Diplom-Psychologe