Die Lehren des häuslichen Lernens.

Seit einigen Wochen befinden sich Eltern, Kinder und Lehrkräfte in einer Ausnahmesituation: Die Schulen sind deutschlandweit geschlossen, der gewohnte Präsenzunterricht entfällt. Stattdessen sollen Schüler*innen durch bereitgestellte Aufgaben und Arbeitsmaterial zuhause den Lernstoff erarbeiten.  
Pro Fach 45 bis 90 Minuten, in welchen die Lehrperson den Lehrstoff erklärt, auf Nachfragen sofort eine Antwort folgt, kurz vorm Pausenklingeln noch schnell die Hausaufgaben mitgeteilt werden – so  kennt man Unterricht. Doch plötzlich scheint alles eine einzige große Hausaufgabe zu sein: Lernstoff selber erarbeiten, recherchieren, zugehörige Aufgaben lösen… gar nicht so einfach ohne jemanden, der/die geduldig erklärt und wiederholt. Und dann ausgerechnet noch in dem Schulfach, was man unter normalen Umständen schon ätzend findet! Das ist jedoch unter den aktuellen Umständen nicht die einzige Herausforderung für Schüler*innen. Denn ständig lockt die Aussicht auf „Corona-Ferien“: Mal wieder ausschlafen anstatt sich in aller Früh an die Schulaufgaben zu setzen, alles etwas entspannter angehen. Darüber hinaus bieten PC und Smartphone zahlreiche Ablenkungsmöglichkeiten und sind als schulisches „Arbeitsgerät“ eher ungewohnt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Eltern nun – eigeninitiativ oder auf eindringlichen Wunsch ihrer Kinder – die Rolle einer „Ersatzlehrkraft“ einnehmen. Jedoch zeigt die Erfahrung der letzten Wochen, dass diese zusätzliche Aufgabe nicht leicht zu bewältigen ist. Selbst wenn Eltern aufgrund der derzeitigen Beschränkungen ebenfalls daheim sind, bleiben die Verpflichtungen erhalten: Haushalt, Kinderbetreuung, Homeoffice etc. Zudem merken insbesondere Eltern älterer Kinder und Jugendlicher, dass im Erwachsenen-Alltag schulische Wissensinhalte nicht so einfach abrufbar sind und stehen somit oft genauso ratlos vor den Aufgaben.
Sicher denken unter diesen Umständen nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder bisweilen sehnsüchtig an ganz normale Schultage. Bis es soweit ist, gibt es Möglichkeiten, das häusliche Lernen für alle Beteiligten angenehmer zu gestalten.

Dein Job, mein Job: Selbstorganisation beim Lernen

Auch wenn die Versuchung groß ist, selbst alles in die Hand zu nehmen: Schul- und Hausaufgaben sind Aufgabe der Kinder! Daher sollten Lösungen nicht einfach vorgegeben werden, vielmehr sollten die Schüler*innen darin unterstützt werden, selbstständig zu lernen. Die Fähigkeit der Selbstorganisation ist nicht nur in der jetzigen Situation vorteilhaft, sondern kann generell dazu beitragen, Hausaufgabensituationen entspannter zu gestalten.
Neben festen Lernzeiten mit Pausen bieten sich kleine Hinweisreize an, um Struktur zu schaffen: Das Stellen eines Weckers, dessen Klingeln später die Pause einläutet, das Stummschalten des Handys, das Glas Wasser und der gespitzte Bleistift auf dem Schreibtisch, der Ortswechsel des Laptops vom Sofa an den Schreibtisch. Dies signalisiert dem Kopf: „Jetzt wird gelernt!“ und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aufgaben. Für manche Kinder ist es auch hilfreich, wenn sie wahrnehmen, dass die Eltern gleichzeitig z.B. im Homeoffice arbeiten. Wenn alle „im selben Boot sitzen“, fällt es leichter, sich zu motivieren. Bereits jüngere Kinder entwickeln Lernstrategien und wollen diese erproben. Beim Lernprozess sollten daher Freiräume zugestanden werden, um beispielsweise Entscheidungen zu treffen, in welcher Reihenfolge die Aufgaben bearbeitet werden, welche Hilfsmittel genutzt werden usw. Eigeninitiative beim Lernen, sei es die gezielte Internetrecherche oder die Besprechung der Aufgaben mit dem/der besten Freund*in am Telefon, sollte ebenfalls zugelassen werden. Lob für erledigte Aufgaben und Arbeitsfortschritte sollte außerdem nicht zu kurz kommen und spezifisch formuliert sein. „Toll, dass du alle Aufgaben ohne meine Hilfe erledigt hast“ ist motivierender als ein kurzes „Gut gemacht“. Insbesondere jüngere Kinder freuen sich zusätzlich über Sticker und Smileys im Aufgabenheft oder Wochenplan, die ihnen zeigen, wie viel sie schon geschafft haben. 

„Spicken“ und mit dem Nachbarn tuscheln: Hilfsmittel beim Lernen

Was im normalen Unterricht nicht immer gern gesehen wird, ist beim selbstständigen Lernen unerlässlich: Nachschauen, abschreiben, miteinander kommunizieren. Denn nur so können neue Lerngegenstände in bereits bestehende Wissensstrukturen eingebettet werde. Auch in Zeiten von Kontaktbeschränkung und „Social Distancing“ bieten E-Mail, Whatsapp und Co. Möglichkeiten, sich auszutauschen – eine Lerngruppe in Whatsapp ist schnell eingerichtet. Auch viele Eltern nutzen diese Möglichkeiten, um Tipps und Erfahrungen auszutauschen. Falls Internetnutzung zur Aufgabenbearbeitung erlaubt oder gar gewünscht ist, tun sich weitere Optionen auf: Viele Schüler*innen sind bereits mit Youtube-Tutorials zu ausgewählten Unterrichtsthemen vertraut. Kurze Videoerklärungen helfen beim Aufgabenverständnis und schaffen eine vertraute Situation: Man lauscht zunächst den Erklärungen der Lehrperson, schaut sich Beispielaufgaben an und versucht anschließend eigenständig die Aufgabe zu lösen. Insbesondere Schüler*innen, welchen der Wissenserwerb durch Lesen allein schwerfällt, profitieren von dieser Art der Themenaufbereitung. Wer aktuell das Internet zum Lernen nutzt, wird von kurzweiligen Zusammenfassungen von Goethes „Faust“ bis hin zur chemischen Erklärung, wie eigentlich Selbstbräuner funktioniert, eine Menge nützliche Informationen finden.

Lehrer*innen sind auch nur Menschen: Gemeinsam Bilanz ziehen

Nicht nur für die Familien, auch für die Lehrer*innen erwies sich die Umstellung auf ausschließlich häusliches Lernen als neuartige Herausforderung: Unterrichtsinhalte müssen anders aufbereitet werden, Arbeitspakete an alle Schüler*innen verteilt werden, die im besten Fall zeitnah (elektronisch) eingesammelt und korrigiert werden. Selbst für erfahrene Lehrkräfte ist es dabei schwer einzuschätzen, wie gut die Schüler*innen ohne vorherigen Unterricht den Lernstoff bewältigen können. Neben dem hohen organisatorischen Aufwand kommen verstärkt digitale Medien zur fachlichen Unterstützung zum Einsatz - für manche vielleicht zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn. Das Schulsystem wird zum digitalen Feldexperiment, das Störfaktoren ausgesetzt ist. Umso wichtiger ist es, gemeinsam zu bewerten: Ist die Menge an Lernstoff angemessen? Wie funktioniert die Rücksendung der Aufgaben? Welche Feedback- und Hilfsstrukturen haben sich als nützlich erwiesen? Idealerweise sollte die Bewertung nicht erst am Ende stattfinden, sondern während des Prozesses, um Verbesserungen schnell umzusetzen. Schüler*innen erweisen sich dabei als „Expert*innen“ der Unterrichtsbewertung und die meisten Lehrer*innen sind dankbar über (wertschätzende!) Rückmeldungen. Auf diese Weise können sogar weitere Lernstrukturen etabliert werden, die zu einem späteren Zeitpunkt in den Schulalltag übernommen werden können.

„Wie lange nooooooooch?“: Mit Unlust und Ängsten umgehen

Plötzlich Schule in den eigenen vier Wänden – das kann anstrengend und nervig sein. Selten ist die nötige Ruhe zum Lernen gegeben, Ablenkungen sind nicht immer vermeidbar. Die notwendige Motivation und Konzentration für Schulaufgaben aufrechtzuerhalten kostet insbesondere jüngere Kinder viel Kraft. Daher sollten die Lernzeiten lieber etwas kürzer gehalten und (aktive) Pausen eingeplant werden. Manchmal ist der Kopf jedoch gar nicht mehr aufnahmefähig für schulischen Lernstoff. Glücklicherweise lernt man nicht nur für die Schule, sondern kann alternative „Lerngelegenheiten“ nutzen: die Dokumentation über Ritterburgen auf Youtube, eine Quizrunde wie bei „Wer wird Millionär?“ usw. Die physikalische Flugbahn eines Balls kann beim Fußballspiel im Garten selbst erlebt werden.    
Auch wenn die Lernzeit geschafft ist und die Ferien beginnen, können Gedanken an die Schule Kinder weiterhin beschäftigen. Vielleicht treten Ängste und Unsicherheiten auf: Wann darf man wieder gemeinsam zur Schule gehen? Wird sich das komisch anfühlen? Wie viele Klassenarbeiten müssen nachgeschrieben werden? Werden die Zeugnisnoten jetzt schlechter ausfallen? Auch wenn Eltern nicht auf all diese Fragen eine Antwort wissen, können sie zeigen, dass sie die Ängste ernstnehmen. Sie können einfühlsame Zuhörer sein, die Probleme aus einem anderen Blickwinkel betrachten und gemeinsam mit den Kindern über Lösungen nachdenken.
Bei all den Überlegungen zum Lehren und Lernen ist die Schule aber nicht nur ein Ort, um Wissen zu vermitteln. Schule ist ein soziales System mit Mitschüler*innen, auf die man sich unheimlich freut, Lehrer*innen, die Bezugs- und Vertrauenspersonen sind und AG-Angeboten, in denen man sich kreativ und sportlich betätigen kann. Daher ist auch jetzt die Zeit, um über positive Schulerlebnisse zu reden, sich auszutauschen, worauf man sich am meisten freut, wenn die Schule wieder losgeht und gemeinsam Pläne zu schmieden. Denn hoffentlich können wir bald sagen: Jetzt ist endlich wieder Schule!

Ludwigshafen, April 2020

Vanessa Schimbeno
Diplom-Psychologin