Im Frühjahr und Sommer 2020 erlebten Eltern, Kinder und Lehrkräfte eine Ausnahmesituation: Die Schulen waren deutschlandweit geschlossen, der gewohnte Präsenzunterricht erstmal ausgesetzt.

Erst nach den Sommerferien konnten die Kinder und Jugendlichen zwar unter strengen Hygieneauflagen, aber zumindest wieder im gewohnten schulischen Umfeld lernen. Doch auch die Ungewissheit ist in die Schulen gekommen: Wie lange bleibt das so? Immer wieder müssen Schüler*innen als Kontaktpersonen vorsorglich in Quarantäne, Konzepte zur Teilbeschulung von Klassen werden angedacht. Dies bedeutet wiederum, dass der klassische Präsenzunterricht nicht durchgeführt werden kann. Stattdessen sollen Schüler*innen durch bereitgestellte Aufgaben und Arbeitsmaterial sowie durch digitale Medien gestützt zuhause den Lernstoff erarbeiten.  
Pro Fach 45 bis 90 Minuten, in welchen die Lehrperson den Lehrstoff erklärt, auf Nachfragen sofort eine Antwort folgt, kurz vorm Pausenklingeln noch schnell die Hausaufgaben mitgeteilt werden – so  kennt man Unterricht. Doch plötzlich scheint alles eine einzige große Hausaufgabe zu sein: Lernstoff selber erarbeiten, recherchieren, zugehörige Aufgaben lösen… gar nicht so einfach ohne jemanden, der/die geduldig erklärt und wiederholt. Und dann ausgerechnet noch in dem Schulfach, was man unter normalen Umständen schon ätzend findet! Das ist jedoch unter den aktuellen Umständen nicht die einzige Herausforderung für Schüler*innen. Denn ständig lockt die Aussicht auf „Corona-Ferien“: Mal wieder ausschlafen anstatt sich in aller Früh an die Schulaufgaben zu setzen, alles etwas entspannter angehen. Darüber hinaus bieten PC und Smartphone zahlreiche Ablenkungsmöglichkeiten und sind als schulisches „Arbeitsgerät“ eher ungewohnt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Eltern in dieser Situation – eigeninitiativ oder auf eindringlichen Wunsch ihrer Kinder – die Rolle einer „Ersatzlehrkraft“ einnehmen. Jedoch zeigt die Erfahrung der letzten Monate, dass diese zusätzliche Aufgabe nicht leicht zu bewältigen ist. Selbst wenn Eltern aufgrund der derzeitigen Beschränkungen ebenfalls daheim sind, bleiben die Verpflichtungen erhalten: Haushalt, Kinderbetreuung, Homeoffice etc. Zudem merken insbesondere Eltern älterer Kinder und Jugendlicher, dass im Erwachsenen-Alltag schulische Wissensinhalte nicht so einfach abrufbar sind und stehen somit oft genauso ratlos vor den Aufgaben.
Sicher denken unter diesen Umständen nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder bisweilen sehnsüchtig an ganz normale Schultage. Bis es soweit ist, gibt es Möglichkeiten, das häusliche Lernen für alle Beteiligten angenehmer zu gestalten.
Dein Job, mein Job: Selbstorganisation beim Lernen
Auch, wenn die Versuchung groß ist, selbst alles in die Hand zu nehmen: Schul- und Hausaufgaben sind Aufgabe der Kinder! Daher sollten Lösungen nicht einfach vorgegeben werden, vielmehr sollten die Schüler*innen darin unterstützt werden, selbstständig zu lernen. Die Fähigkeit der Selbstorganisation ist nicht nur in der jetzigen Situation vorteilhaft, sondern kann generell dazu beitragen, Hausaufgabensituationen entspannter zu gestalten.
Neben festen Lernzeiten mit Pausen bieten sich kleine Hinweisreize an, um Struktur zu schaffen: Das Stellen eines Weckers, dessen Klingeln später die Pause einläutet, das Stummschalten des Handys, das Glas Wasser und der gespitzte Bleistift auf dem Schreibtisch, der Ortswechsel des Laptops vom Sofa an den Schreibtisch. Dies signalisiert dem Kopf: „Jetzt wird gelernt!“ und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aufgaben. Für manche Kinder ist es auch hilfreich, wenn sie wahrnehmen, dass die Eltern gleichzeitig z.B. im Homeoffice arbeiten. Wenn alle „im selben Boot sitzen“, fällt es leichter, sich zu motivieren. Bereits jüngere Kinder entwickeln Lernstrategien und wollen diese erproben. Beim Lernprozess sollten daher Freiräume zugestanden werden, um beispielsweise Entscheidungen zu treffen, in welcher Reihenfolge die Aufgaben bearbeitet werden, welche Hilfsmittel genutzt werden usw. Eigeninitiative beim Lernen, sei es die gezielte Internetrecherche oder die Besprechung der Aufgaben mit dem/der besten Freund*in am Telefon, sollte ebenfalls zugelassen werden. Lob für erledigte Aufgaben und Arbeitsfortschritte sollte außerdem nicht zu kurz kommen und spezifisch formuliert sein. „Toll, dass du alle Aufgaben ohne meine Hilfe erledigt hast“ ist motivierender als ein kurzes „Gut gemacht“. Insbesondere jüngere Kinder freuen sich zusätzlich über Sticker und Smileys im Aufgabenheft oder Wochenplan, die ihnen zeigen, wie viel sie schon geschafft haben.  
„Spicken“ und mit dem Nachbarn tuscheln: Hilfsmittel beim Lernen
Was im normalen Unterricht nicht immer gern gesehen wird, ist beim selbstständigen Lernen unerlässlich: Nachschauen, abschreiben, miteinander kommunizieren. Denn nur so können neue Lerngegenstände in bereits bestehende Wissensstrukturen eingebettet werde. Auch in Zeiten von Kontaktbeschränkung und „Social Distancing“ bieten E-Mail, Whatsapp und Co. Möglichkeiten, sich auszutauschen – eine Lerngruppe in Whatsapp ist schnell eingerichtet. Auch viele Eltern nutzen diese Möglichkeiten, um Tipps und Erfahrungen auszutauschen. Falls Internetnutzung zur Aufgabenbearbeitung erlaubt oder gar gewünscht ist, tun sich weitere Optionen auf: Viele Schüler*innen sind bereits mit Youtube-Tutorials zu ausgewählten Unterrichtsthemen vertraut. Kurze Videoerklärungen helfen beim Aufgabenverständnis und schaffen eine vertraute Situation: Man lauscht zunächst den Erklärungen der Lehrperson, schaut sich Beispielaufgaben an und versucht anschließend eigenständig die Aufgabe zu lösen. Insbesondere Schüler*innen, welchen der Wissenserwerb durch Lesen allein schwerfällt, profitieren von dieser Art der Themenaufbereitung. Wer aktuell das Internet zum Lernen nutzt, wird von kurzweiligen Zusammenfassungen von Goethes „Faust“ bis hin zur chemischen Erklärung, wie eigentlich Selbstbräuner funktioniert, eine Menge nützliche Informationen finden.
Lehrer*innen sind auch nur Menschen: Gemeinsam Bilanz ziehen
Nicht nur für die Familien, auch für die Lehrer*innen erwies sich die Umstellung auf häusliches Lernen als neuartige Herausforderung: Unterrichtsinhalte müssen anders aufbereitet werden, Arbeitspakete an alle Schüler*innen verteilt werden, die im besten Fall zeitnah (elektronisch) eingesammelt und korrigiert werden. Selbst für erfahrene Lehrkräfte ist es dabei schwer einzuschätzen, wie gut die Schüler*innen ohne Teilnahme am Präsenzunterricht den Lernstoff bewältigen können. Neben dem hohen organisatorischen Aufwand kommen verstärkt digitale Medien zur fachlichen Unterstützung zum Einsatz - für manche vielleicht zum ersten Mal in ihrer beruflichen Laufbahn. Das Schulsystem wird zum digitalen Feldexperiment, das Störfaktoren ausgesetzt ist. Umso wichtiger ist es, gemeinsam zu bewerten: Ist die Menge an Lernstoff angemessen? Wie funktioniert die Rücksendung der Aufgaben? Welche Feedback- und Hilfsstrukturen haben sich als nützlich erwiesen? Idealerweise sollte die Bewertung nicht erst am Ende stattfinden, sondern während des Prozesses, um Verbesserungen schnell umzusetzen. Schüler*innen erweisen sich dabei als „Expert*innen“ der Unterrichtsbewertung und die meisten Lehrer*innen sind dankbar über (wertschätzende!) Rückmeldungen. Auf diese Weise können sogar weitere Lernstrukturen etabliert werden, die zu einem späteren Zeitpunkt in den Schulalltag „nach Corona“ übernommen werden können.  

„Wie lange nooooooooch?“: Mit Unlust und Ängsten umgehen
Plötzlich Schule in den eigenen vier Wänden – das kann anstrengend und nervig sein. Selten ist die nötige Ruhe zum Lernen gegeben, Ablenkungen sind nicht immer vermeidbar. Die notwendige Motivation und Konzentration für Schulaufgaben aufrechtzuerhalten kostet insbesondere jüngere Kinder viel Kraft. Daher sollten die Lernzeiten lieber etwas kürzer gehalten und (aktive) Pausen eingeplant werden. Manchmal ist der Kopf jedoch gar nicht mehr aufnahmefähig für schulischen Lernstoff. Glücklicherweise lernt man nicht nur für die Schule, sondern kann alternative „Lerngelegenheiten“ nutzen: die Dokumentation über Ritterburgen auf Youtube, eine Quizrunde wie bei „Wer wird Millionär?“ usw. Die physikalische Flugbahn eines Balls kann beim Fußballspiel im Garten selbst erlebt werden.    
Auch wenn ein Stück Normalität in den Schulalltag zurückgekehrt ist, so bleibt es eine „neue Normalität“, die Kinder und Jugendliche beschäftigt und verunsichert. Vielleicht treten Fragen und Ängste auf: Was ist, wenn ich mich bei meinem Freund oder meiner Freundin anstecke? Bin ich jetzt eine Gefahr für meine Großeltern? Bekomme ich richtig Ärger, wenn ich meinen Mund-Nasen-Schutz vergessen habe? Vielleicht sorgen sich die Schüler*innen auch konkret um die Auswirkungen einer (erneuten) Schulschließung auf ihre Noten und Bildungschancen. Auch wenn Eltern nicht auf all diese Fragen eine Antwort wissen, können sie zeigen, dass sie die Ängste ernstnehmen. Sie können einfühlsame Zuhörer sein, die Probleme aus einem anderen Blickwinkel betrachten und gemeinsam mit den Kindern über Lösungen nachdenken. Ein gemeinsam erarbeiteter Plan – auch in Absprache mit der Klasse und den Lehrer*innen - für den Fall einer weiteren Schulschließung schafft Sicherheit und Zuversicht. Es mag auch hilfreich sein, sich über die täglichen Entwicklungen im Infektionsgeschehen und die aktuellsten Vorschriften zu informieren – in Maßen. Ab und zu sollten Smartphone, PC und Co. ausgeschaltet werden, damit auch der Kopf mal „abschalten“ kann.  
Bei all den Überlegungen zum Lehren und Lernen ist die Schule aber nicht nur ein Ort, um Wissen zu vermitteln. Schule ist ein soziales System mit Mitschüler*innen, auf die man sich unheimlich freut, Lehrer*innen, die Bezugs- und Vertrauenspersonen sind und AG-Angeboten, in denen man sich kreativ und sportlich betätigen kann. Auch in Zeiten, in denen nicht alles wie gewohnt läuft, ist es wichtig, die positiven Aspekte nicht aus den Augen zu verlieren. Neben Pflichten und Lerneinheiten sollten auch Aktivitäten zum Entspannen, Spaß haben oder Toben ihren festen Platz im Tagesablauf haben. Hier können Hobbies – sofern möglich – in den eigenen 4 Wänden weiter gepflegt werden oder ganz neue Dinge ausprobiert werden. Probiert man etwas Neues aus, wird dies bewusster und intensiver wahrgenommen als das, was bereits bekannt ist - ein kleiner Trick, wenn alles grau und eintönig scheint. Auch in einem „Positiv-Tagebuch“ können schöne Momente und Gedanken festgehalten werden, um graue Tage mit kleinen Lichtblicken aufzuhellen. Und hoffentlich steht bald im Tagebuch: „Heute war wieder ganz normal Schule.“

Ludwigshafen, November 2020

Vanessa Schimbeno
Diplom-Psychologin