"Langsam reicht’s, ich hatte gerade einen Megastress, weil ich nicht die ganze Zeit mit den Hausaufgaben meiner Geschwister verbringen will. ...

... Ich hab auch ein eigenes Leben. Warum kapiert das niemand?"

Chris, 16 Jahre (Name wurde geändert, Anfragetext zur Anonymisierung verkürzt)

Hallo Chris,

in deiner Anfrage wird sehr deutlich, wie offensichtlich anstrengend die Auseinandersetzung kurz vor dem Schreiben bei dir zuhause war! Ich hoffe, die Wogen haben sich mittlerweile wieder etwas geglättet und es ist dir gelungen, wieder etwas Zeit für dich zu finden!
Tatsächlich haben uns bereits einige Anfragen an der Beratungsstelle erreicht, in denen Jugendliche sehr ähnliche Erfahrungen schildern, wie die, die du gerade machst.
Gerade für Jugendliche ist die aktuelle Situation wirklich eine hohe Herausforderung. War es vielleicht am Anfang der Einschränkungen zunächst ganz spannend, dass viele Dinge des Alltags auf den Kopf gestellt wurden, zeigte sich aber sehr schnell, dass die Schulschließungen nicht nur „vorzeitige Osterferien“ mit sich bringen, die Zeit zuhause nicht nur zu mehr Gelegenheit zum Onlinekontakt schenkt. Gerade jetzt, nachdem einige Wochen Aushalten anstanden, ist es, glaube ich, für alle besonders schwer, noch gut durchzuhalten, jeder für sich, aber auch für alle in der Familie zusammen. Natürlich merkst du, auch wenn du ab und zu vor die Tür gehst, dennoch, dass es schwer ist, auf viele Dinge, die dir sehr wichtig sind (und übrigens in der Regel allen Jugendlichen) einfach zu kurz kommen. Ich denke da etwa an den Wunsch, Dinge frei entscheiden zu können oder zumindest mitentscheiden zu können. In jeder Familie mit Jugendlichen führt dieser Entwicklungsschritt hin zu Autonomie und Selbständigkeit zwangsläufig über Auseinandersetzungen. Das kennst du sicherlich schon aus der Zeit vor der aktuellen Krise, dazu braucht es keine Corona-Bedrohung und politische Entscheidungen über Kontaktbeschränkungen. Neu ist nun, dass die Autonomie jedes Einzelnen aktuell deutlich mehr eingeschränkt ist, und das trifft Jugendliche nach meiner Meinung besonders hart. Oft mussten sie schwierige Kämpfe mit Eltern austragen, um zu für sie einigermaßen akzeptablen Kompromissen zu gelangen. Im Moment erscheint alles umsonst, die erkämpfte Freiheit um die Zeit mit Freunden und um Dinge unternehmen zu können, von denen die Eltern nicht alles mitbekommen müssen, das alles ist jetzt fast ausschließlich auf die eigenen vier Wände verlagert. Das strengt an, macht miese Laune und stresst auch im Miteinander.
Was dir besonders zu schaffen macht, ist dass du wohl einiges für die Schule zu tun hast und gleichzeitig noch deine beiden kleineren Geschwistern bei deren Schularbeiten unterstützt. Das nimmt dir noch mehr Freiheit und insbesondere Zeit, die du gerne online mit Freunden nutzen möchtest, wenn du sie schon nicht treffen kannst.
Du schreibst, dass du der Älteste von euch dreien bist, es dich schon immer genervt hat, dass du Verantwortung für die Geschwister tragen musstest, während eure Eltern nach deinem Eindruck nie richtig verstanden haben, wie sehr dich das oft anstrengt und nervt. Auch das ist zwar kein Corona-Thema, wird aber gerade jetzt besonders anstrengend. Die erstgeborenen Kinder tragen sehr oft tatsächlich mehr Verantwortung als nachkommende Geschwister, müssen sich Freiheiten erkämpfen, von denen die Jüngeren später profitieren, ich könnte hier noch mehr Nachteile aufführen und du könntest die Liste immer noch ergänzen. Natürlich hat es aber auch Vorteile, der Erstgeborene zu sein. Ich gehe etwa davon aus, dass du andere Absprachen mit deinen Eltern hast als deine Geschwister, etwa normalerweise länger rausdarfst oder mehr Taschengeld erhältst. Bestimmt könntest du auch diese Liste ergänzen. Aus deiner Sicht verstehe ich aber gut, dass gerade jetzt vieles für dich mehr auf der Nachteilsseite erscheint.
Lass uns einfach schauen, wie du gerade jetzt damit umgehen und vielleicht auch in einen guten Austausch mit deinen Eltern kommen kannst.
Um permanente Spannung und Auseinandersetzungen zu vermeiden, ist es wichtig, dass du selbst in Ruhe überlegst, wie du deinen Tag gestalten möchtest, was du unbedingt tun möchtest, wie du den Kontakt zu deinen Freunden halten willst etwa oder auch wie viel Zeit du einfach für dich alleine verbringen möchtest. Du kannst gerne versuchen, genau festzulegen, wie viel Zeit in Stunden oder Minuten dir dafür notwendig erscheinen.
Überlege dir dann, welche weiteren Dinge dich tagsüber beschäftigen, Dinge, die einfach im Alltag notwendig sind oder aber auch Dinge, die für andere wichtig sind (ob das nun Mithilfe zuhause oder aber auch eine zeitweise Unterstützung der Geschwister bei den Hausaufgaben betrifft). Manche davon sind wahrscheinlich anstrengender, andere wieder können sogar Spaß machen. Vielleicht entdeckst du gerade sogar auf dem Weg auch ganz nette Bilder über Kontakte zu deinen Geschwistern. Lege auch hier Zeiteinheiten fest. - Im Gespräch an der Beratungsstelle arbeite ich übrigens sehr ähnlich, male einen Kreis auf und unterteile in „Kuchenteile“, auch mit einem Anteil für Schlafenszeit. –
Wenn du jetzt „deinen Kuchen“ anschaust, wirst du feststellen, dass möglicherweise einiges nicht richtig zusammenpasst, einige Stücke sind zu groß, andere viel zu klein, vielleicht gibt es für das ein oder andere überhaupt keinen Platz mehr?
Wie zufrieden bist du mit deinem „Kuchen“? Wo möchtest du etwas ändern? Mit wem kannst du dir vorstellen, darüber zu sprechen? Eltern sind manchmal überraschend gute Ansprechpartner, wenn sie feststellen, welche sinnvollen Gedanken sich ihre Söhne oder Töchter machen!
Wenn du also Lust hast, gestalte „deinen Kuchen“ und stelle ihn deiner Familie vor. Ich bin sicher, du wirst spannende und auch wertschätzende Erfahrungen beim Aushandeln machen.
Lieber Chris, ich merke, wie viele Gedanken und Überlegungen deine spannende Anfrage bei mir auslöst und gerade jetzt auch, wie sehr mir die persönlichen Beratungsgespräche, die ich ansonsten mit Eltern, Kindern und Jugendlichen führe, in meinem Alltag natürlich auch fehlen.
Wenn du weiter über deine Themen nachdenken möchtest, kannst du dich gerne direkt an die Beratungsstelle wenden. Aktuell können wir zumindest telefonische Gespräche führen. Nach meiner bisherigen Erfahrung gelingt es aber auch am Telefon überraschend gut, passende Ideen und Lösungen zu entwickeln.
Ich wünsche dir auf jeden Fall an dieser Stelle Erfolg beim Durchhalten aber auch Gestalten dieser Zeit. Offensichtlich, wenn man die aktuelle Situation mit einem Sport vergleicht, befinden wir uns nicht auf einer Kurzstrecke sondern irgendwo in einem Marathonlauf. Hoffentlich in der zweiten Hälfte. Hier sind neben einer guten Kondition auch eine gute Strategie und immer wieder motivierendes Durchhaltevermögen gefragt. Ich bin mir sicher, es wird sich lohnen!

Ludwigshafen, April 2020

Knut Bayer
Diplom-Psychologe